Katharina Thöle

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Theorien eines libertären Sozialismus

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Keine Macht für Niemand

2024-09-25

Mit ihrem zweiten Album popularisierten Ton Steine Scherben eine bestimmte Parole unter den Anarchist*innen ihrer Zeit. »Keine Macht für Niemand« wurde zu einem Kampfwort unter ihnen, welches eine zentrale Rolle in ihrem öffentlichen Auftritt, z. B. über Graffitis, einnahm. Die Parole selbst geht es auf eine künstlerische Übersetzung des Begriffs »Anarchie« zurück. »Anarchie« bedeutet übersetzt eigentlich »ohne Herrschaft«, doch wird Herrschaft unter Anarchist*innen auch häufig mit Macht gleichgesetzt. »Keine Macht für Niemand« fordert die Abschaffung aller Macht. Dies spiegelt die Wahrnehmung von Anarchismus als »Verneinung der Macht«, wie sie z. B. Erich Mühsam vertrat (Mühsam 1932, S. 295). Diese Kritik an der Macht fußt auf einem bestimmten Verständnis dieser, wie sie Robert P. Wolff exemplarisch definiert: Macht sei »die Fähigkeit, Gefügigkeit durch die Anwendung oder Androhung von Gewalt zu erwirken«[1] (Wolff 1998, S. 4). Als Aufzwängung eines fremden Willens wäre sie somit von Anarchist*innen abzulehnen, die ja die Selbstbestimmung des Indivduums fordern.

Doch ist dies bei weitem nicht die einzige mögliche Auffassung von Macht. »Macht« ist ein sehr vielfältiger Begriff, unter dem einiges verstanden werden kann. Es haben sich unter Anarchist*innen auch andere, neutralere, wenn nicht sogar positive Verständnisse von Macht etabliert. Im Fokus dieser Definitionen steht die mit der Macht verbundene Handlungsfähigkeit. So definiert Daniel Baryon z. B. Macht als »Fähigkeit, den eigenen Willen zu verwirklichen»[2] (Baryon 2020).

Von diesem Verständnis aus können Konzepte der Befreiung entwickelt werden. Wenn es beim Anarchismus um eine positive Freiheit, d. h. eine Freiheit, in der Menschen auch tatsächlich die Möglichkeit haben, sich selbst zu verwirklichen, geht, wird Macht in diesem Unterfangen ein essenzieller Bestandteil. Zwar kann nicht bestritten werden, dass Macht auch in hierarchischen und unterdrückenden Verhältnissen existiert, doch wandelt sich das Ziel des Anarchismus auf Basis dieses Verständnisses von der »Abschaffung der Macht« hin zu einer »Umverteilung der Macht«. Gefordert wird die Entmachtung der Mächtigen und die Ermächtigung der Ohnmächtigen. Dieses Doppelverständnis ist die Grundlage für eine anarchistische bzw. libertäre Theorie der Macht, welche sich auch im Wort »Keine Macht für Niemand« wiederspiegelt. Dieses kann sowohl so interpretiert werden, wie es am Anfang dieser Einleitung getan wurde, nämlich dass »Keine Macht« bzw. »Macht für Niemand« gefordert wird als auch, mit Rüchsicht auf die doppelte Verneinung, als Forderung von »Aller Macht für Jeden«.

Was ist Macht?

Macht wird oft mit anderen sozialen Phänomenen verwechselt. Zu diesen gehören u. a. Autorität, Gewalt, Kraft und Stärke. Wie Hannah Arendt aber richtig ausführt, handelt es sich bei diesen zwar um verwandte, aber trotzdem von Macht zu unterscheidene Phänomene (vgl. Arendt 1970, S. 44–47).

Was also ist Macht? Tomás Ibáñez identifiziert drei Arten, wie gemeinhin über Macht gesprochen werde, auf denen die meisten anderen Definitionen aufbauen (vgl. Ibáñez 1983, S. 62 f.):

Macht als Fähigkeit zu handeln, bzw. Effekte zu verursachen.
Macht als Asymmetrie zwischen sozialen Akteur*innen in ihren Fähigkeiten.
Macht als Strukturen der sozialen Regulierung und Kontrolle.

In keiner dieser Konfigurationen sei Macht gänzlich abzulehnen, auch nicht von anarchistischer Seite. Sie gehören zu den natürlichen Funktionsweisen einer gesunden Gesellschaft und sie zu verneinen hieße die Gesellschaft zu verneinen. Ohne Macht sei Gesellschaft und soziales Handeln unmöglich (vgl. ebd., S. 63).

Hieraus lässt sich aber ablesen, wie wichtig Macht für gesellschaftliches Handeln ist. Hannah Arendt versteht Macht sogar als die Fähigkeit, in einer Gemeinschaft handelnd ein Ziel zu verfolgen (vgl. Arendt 1970, S. 45). Diese Auffassung bildet die Basis für den Rest der Arbeit, auch wenn die gesamte Nutzung des Begriffes aufgrund seiner Vieldeutigkeit dem nicht immer genau entsprechen kann.

Freiheit

Der Anarchismus ist eine Philosophie, in deren Zentrum die Forderung nach Freiheit steht. Freiheit, sein Leben ohne Zwang und selbstbestimmt begehen zu können. Dafür allerdings genügt es nicht, die von Außen auf den Menschen einwirkenden Einflüsse abzukappen. Dies wäre fatal für den Menschen, der ein soziales Wesen darstellt. Er ist von äußeren Einflüssen abhängig, auch wenn diese theoretisch seine Freiheit einschränken könnten.

Allein ist der Mensch nicht in der Lage, sein Leben zufriedenstellend zu bewältigen. Es ist erst in der Gesellschaft, da er sein Potenzial entfalten kann. Erst in der Gesellschaft wird die Selbstverwirklichung und eine Selbstbestimmung, die über das bloße Entscheidungen-über-sich-selbst-Fällen hinausgeht und die Verwirklichung dieser Entscheidungen beinhaltet, möglich. Doch sieht der Mensch sich dadurch auch immer Machtverhältnissen ausgesetzt.

Die Verwirklichung der Freiheit eines einzelnen ist nur durch die Gesellschaft möglich. In einer anarchistischen Gesellschaft würde die Macht der Gesellschaft sich positiv auf ihre Mitglieder auswirken und ihnen die Möglichkeit bieten, im gemeinsamen Handeln sich selbst zu verwirklichen. Macht bedingt somit Freiheit.

Thomás Ibáñez allerdings weist darauf hin, dass dies bei weitem keine absolute Freiheit sein kann (vgl. Ibáñez 1983, S. 64). »Die Freiheit des Einen findet ihre Grenze dort, wo die Freiheit des Andern beginnt«, wie ein Sprichwort dazu lautet. Als Teil einer Gesellschaft müssen wir Einschnitte in unserer eigenen Freiheit machen, um die Freiheit anderer nicht zu verletzen. Das heißt auch, dass wir die gesellschaftliche Macht nicht zum Nachteil anderer verwenden können.

Dieses Ideal wird in hierarchischen Verhältnissen nicht erfüllt. Macht konzentriert sich in den Händen einiger Herrschenden während der Großteil der Gesellschaft eine gewisse Form von Ohnmacht und Unfreiheit erfährt. Statt einer Selbstbestimmung sind die meisten einer Fremdbestimmung ausgesetzt. Die Möglichkeiten der Partizipation an der Gesellschaft und seinem eigenen Schicksal werden einem vorenthalten. Dagegen richtet sich der Anarchismus mit einer weiteren zentralen Forderung: Der Forderung nach Partizipation, durch die Macht in einem libertären Sinne für die Selbstbestimmung der Gesellschaftsmitglieder verwendet werden würde (vgl. Corrêa 2019).

Libertäre Macht

Die revolutionäre Aufgabe des Anarchismus ist die Entmachtung jener, die bisher ihre Macht zu Zwecken der Ausbeutung nutzen und die Ermächtigung derer, die bislang ohnmächtig den Mächtigen ausgeliefert waren. Der Anarchismus richtet sich gegen Macht in hierarchischen Strukturen und will an ihre Stelle Macht in horizontalen Strukturen stellen (vgl. Ibáñez 1983, S. 65).

Macht bedarf der kontinuierlichen Zustimmung und Mitarbeit derjenigen, die sie konstituieren (vgl. Sharp 1973, S. 28 f.). Diese Zustimmung kann entzogen werden, wodurch eine Machtstruktur zerfallen würde (vgl. ebd., S. 30–32). Allerdings sind die Mitglieder einer solchen Struktur an deren Überleben gebunden, da sich ihr ganzes soziale Leben, ihre Bedürfnisbefriedigung usw. in dieser abspielt. Ein abrupter Schnitt in der Kontinuität der Gesellschaft hätte, wenn er überhaupt möglich wäre, katastrophale Folgen. Es ist aus diesem Grund, dass sich im Anarchismus alternative Modelle zu dem klassischen Verständnis der Revolution als ein einzelnes, singuläres Ereignis entwickelt haben. Zentral dabei sind die Konzepte der Präfiguration und der Gegenmacht.

Die Methode der Präfiguration, wenn auch nicht ihr Name, geht auf die Industrial Workers of the World, einer dem Anarchismus nahestehende Gewerkschaft, die damals vor allem in den Vereinigten Staaten aktiv war, zurück. In der Präambel ihrer Constitution heißt es: »Indem wir uns industriell organisieren, formen wir die Struktur der neuen Gesellschaft in der Schale der Alten«[3]. Präfiguration geschieht, während die zu überwindenden Verhältnisse noch bestehen. Sie geschieht vor der sozialen Revolution, daher der Name.

Präfigurative Politik versucht, durch Anwendung libertärer Prinzipien wie Konsensfindung, horizontaler Organisierung, gegenseitiger Hilfe usw., die Möglichkeit einer befreiten Welt im Hier und Jetzt erfahrbar zu machen. Dadurch lassen sich Strukturen aufbauen, die potenziell bis jenseits einer sozialen Revolution Bestand haben könnte, als auch die Funktionalität libertärer Gesellschaftsorganisation unter Beweis stellen.

Ein Beispiel von präfigurativer Politik ist der Aufbau von »Gegenmacht«, bzw. »Doppelmacht«. Das Konzept nimmt seinen Ursprung in der Russischen Revolution, in der die Sowjets erfolgreich einen zweiten Pol gesellschaftlicher Macht gegenüber der offiziellen Regierung etablierten konnten. Dies entzog der zentralen Regierung wichtige Quellen gesellschaftlicher Macht und gab diese in die Hände sozialistischer Revolutionäre.

Diese Strategie findet unter libertären Sozialist*innen und Anarchist*innen deutlichen Anklang. Einer organisierten anarchistischen Massenbewegung geht es um den Aufbau alternativer Strukturen, die den Staat nach und nach ersetzen. Nach dem Prinzip der Einheit der Mittel und Zwecke organisieren sich solche Strukturen horizontal.

Gegenmacht funktioniert so, dass sie nach und nach die Funktionen der Gesellschaft aus der Hand der Regierung in die Hand der Gesellschaft überträgt. Es sind vor allem die Bereiche der Entscheidungsfindung und der Wirtschaft, die bisher am meisten erkundet sind. Die Sowjets der Russischen Revolution, die die Arbeiter- und Soldatenräte der deutschen Revolution von 1918/19 inspirierten, die Gewerkschaften im Spanischen Bürgerkrieg, die Assemblies von Occupy Wall Street, dies sind Beispiele für (versuchte) Gegenmacht auf einer Ebene der Entscheidungsfindung. Statt darauf zu hoffen, dass eine zentrale Regierung Entscheidungen für einen trifft, die im eigenen Interesse sind, wird sich direkt auf Augenhöhe zusammengetan, um gemeinsam über das gemeinsame Handeln zu deliberieren.

Ähnlich stellen alternative Wirtschaften ein Beispiel für Gegenmacht im wirtschaftlichen Bereich dar. Beispielhaft sei Cooperation Jackson aus den USA genannt. Unter Anarchist*innen beliebt sind ebenfalls Konzepte wie Food not Bombs oder die Küche für Alle, wo Aktivist*innen sich zusammentun um meist containertes Essen zu kochen und dieses dann gratis verteilen. Ein weiteres Beispiel sind sogenannte Third Spaces, also soziale Räume jenseits des eigenen Zuhauses und der Arbeit, die ihren Teil dazu beitragen, die Entfremdung und Atomisierung der Gesellschaft zu überwinden. Als Beispiel hierfür dienen die von der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft FAU im Rahmen ihrer »revolutionären Nachbarschaftsarbeit« aufgebauten Nachbarschaftstreffs, die, wie der Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2023 feststellte, sich einer recht großen Beliebtheit erfreuen und mit verantwortlich für die wachsenden Mitgliedszahlen der FAU seien.

Nach und nach wird so die graduelle »Rückeroberung« von sozialen Funktionen, die der Staat zuvor aus den Händen der Gesellschaft an sich genommen hatte, vorangetrieben. Die beteiligten Menschen werden zunehmend unabhängig von dessen Obhut und können Anarchis, oder zumindest horizontale Organisation, immanent erfahren. Dadurch entsteht ein sozialer Pol jenseits der Reichweite des Staates, von dem eine soziale Revolution ausgehen könnte.

Bibliographie

ARENDT, Hannah, 1970. Macht und Gewalt. München: Piper Verlag.

BARYON, Daniel, 2020. Power [online]. Verfügbar unter https://theanarchistlibrary.org/library/anark-power

CORRÊA, Felipe, 2019. Anarchism, Power, Class and Social Change [online]. Verfügbar unter http://blackrosefed.org/correa-anarchism-power-class/

IBÁÑEZ, Tomás, 1983. »Towards a Libertarian Political Power«. In: Giovanna Gioli und Hamish Kallin (Hrsg.), Thinking as Anarchists. Selected Writings from Volontà. Edinburgh: Edinburgh University Press. S. 61 – 68.

MÜHSAM, Erich, 1932. »Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat«. In: Ders., Prosaschriften Ⅱ. Berlin: Verlag Europäische Ideen. S. 251 – 298.

SHARP, Gene, 1973. Power and Struggle. The Politics of Nonviolent Action Bd. 1. Boston: Extending Horizons Books.

WOLFF, Robert P., 1998. In Defense of Anarchism. Berkeley: University of California Press.

Korrekturen

29.03.2025: Ich wurde darauf hingewiesen, dass die IWW nicht explizit anarchistisch sind/waren. Dementsprechend habe ich die Bennenung der IWW als “anarchistisch” relativiert.


  1. Im Original: ”the ability to compel compliance, either through the use or the threat of force.“ ↩︎

  2. Im Original: ”the ability to successfully enact one’s will“ ↩︎

  3. Im Original: “By organizing industrially we are forming the structure of the new society within the shell of the old.” ↩︎