Das Konzept einer Stadtguerilla war von vorneherein fehlgeleitet. Theoretische Reflektionen, soweit es sie gab, haben die Konklusion, dass die Stadtguerilla die richtige Aktionsform sei, auf die notwendigen Prämissen geschlossen. Es ist nicht aus einer tatsächlichen materiellen Analyse der gesellschaftlichen Lage der Bundesrepublik der 60er her entstanden, sondern aus einem unreflektierten Drang zur Aktion und ist dadurch schnell in einen faschistoiden Kult des Handelns und der Brutalität verendet. Hierzu zwei Beispiele:
Innerhalb der (ersten Generation der) RAF waren es vor allem Horst Mahler und Ulrike Meinhof, die eine tatsächliche theoretische Reflektion und Begründung ihrer Taten anstrebten. Der Rest der Gruppe war an diesem Unterfangen nicht interessiert und dementsprechend nicht in der Produktion der für die RAF ›programmatischen‹ Texte (die jedoch nur die Meinung einer Person darstellten und als solche nicht wirklich als programmatisch betrachtet werden können). Horst Mahler wurde recht schnell festgenommen und damit von der gelebten RAF Praxis getrennt (und sich selbst sehr bald von der RAF trennte), weswegen er nicht weiter behandelt wird. Schauen wir uns das Programm im Genaueren an:
In Das Konzept Stadtguerilla (1971) stellt die RAF unter Federführung Meinhofs die erste deutsche Betrachtung zum Thema vor. Gleichzeitig versucht sie es theoretisch zu begründen. Dies ist zu diesem Zeitpunkt gar international ein Novum. Das, was bisher als ›Theorie‹ der Stadtguerilla galt, war wenig mehr als eine Handreichung mit Tipps und Tricks für den besonders machohaften Möchtegernrevolutionär mit Hang zur Gewalt. Unter Bezug auf Revolutionstheorien von Lenin, Mao, und Guevara versucht Meinhof nun, die Praxis theoretisch zu fundieren. Hierein begeht sie den ersten Fehler: Sie hat den Karren vor's Pferd gespannt, in dem sie die Richtigkeit der Praxis voraussetzt. Dies ist lesbar merklich, da sie sich die Elemente der Theorie, die ihr für ihre angenommene Konklusion in das Konzept passen, übernimmt, diejenigen, die das Konzept einer Stadtguerilla jedoch kategorisch ausschließen würden, einfach auslässt.
Konkret bezieht sich Meinhof auf Lenins Konzept der Avantgarde, Maos Primat der Praxis, und Guevaras Fokustheorie. Auffällig ist, dass sich auf eine Praxis festgelegt wurde, aber explizit erwähnt wird, dass sie zu diesem Zeitpunkt nicht (vollständig) begründet werden kann. Die RAF wird mehr als ein Experiment geframed, welches ausprobiert werden müsse. Im Konzept aber solle die RAF eine revolutionäre Avantgarde sein, die als Fokus durch ihre Praxis das Klassenbewusstsein der Bevölkerung steigern sollte. Es ging um die Herausforderung des Staates, der sich dann durch eine gewaltvolle Antwort ›demaskieren‹ würde und die Bevölkerung gegen sich selbst aufbringt. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Dies geschah nicht.
Eine weitere Gruppe, die als Stadtguerilla bezeichnet werden kann, sind die Revolutionären Zellen. Ihr Manifest veröffentlichten sie ganze zwei Jahre nach ihrem ersten Anschlag. Zwei Jahre hat es gebraucht, bis eine Reflektion überhaupt versucht wurde. Der Text strotzt vor Voluntarismus der schlimmsten Art und Gerede einer ›Selbstbefreiung‹ anstelle der Befreiung des Proletariats. Derselbe Voluntarismus versteckt sich auch zwischen den Zeilen der RAF-Schriften, nur kaschieren sie es besser. Lenins und Maos Betonung der revolutionären Bedingungen werden aus dem Fenster geworfen, mit einem verzweifelten Griff zu Guevara, bei dem allerdings auch der Kontext seiner Fokustheorie ignoriert wird.
Wichtig für alle drei Theoretiker ist, dass die Revolution in einem materiellen Kontext stattfindet. Die RAF wirft diesen Kontext vollends über Bord und redet sich ein, dass sie durch Terror diesen Kontext hervorufen könnten. Es braucht nicht viel Hirnschmalz, um zu erkennen, dass dies offensichtlich nicht der Fall ist oder jemals war. Der Griff zur Waffe kann folgendermaßen interpretiert werden: Nach dem Ende der Studierendenrevolte schwimmt die Neue Linke ziellos in den Gewässern der Bundesrepublik. Einige wenige sind davon so verzweifelt, dass sie zu dem Schluss kommen, dass irgendein Handeln besser ist als gar kein Handeln. Je ›radikaler‹ das Handeln, desto besser. Und was ist radikaler als sich der ›revolutionären‹ Gewalt hinzugeben? Dieser Bruch mit der ›bürgerlichen‹ Mentalität stellt den Umkehrgrenzpunkt dar. In den Worten eines ehemaligen Mitglieds der Revolutionären Zellen, Gerd-Hinrich Schnepel, ging es bei der Stadtguerilla darum »mit tollen Leuten heiße Sachen‹ [zu] machen, die auch Spaß machten und gute Gefühle hinterließen«[1]
Der unreflektierte Griff zur Waffe war schließlich der Untergang der Stadtguerilla. Die Bevölkerung, gerade weil sie kein Klassenbewusstsein besaß, lehnte diesen ab und sah den nachfolgenden staatlichen Crackdown als gerechtfertigt an. Auch innerhalb der Linken isolierte sich die RAF, deren größter Unterstützungskreis zu keinem Zeitpunkt die wenigen Tausenden überschritt. Während die unprovozierten Gräueltaten durch deutsche Polizisten z. B. bei der Ermordung Benno Ohnesorgs in der Lage waren, die größte Protestbewegung der BRD zu dem Zeitpunkt vom Zaun zu brechen, die schlussendlich einen weitreichenden Demokratisierungsprozess der bundesdeutschen Gesellschaft ermöglichte, eben weil es unprovoziert war, erreichte die RAF bloß, dass die Ausweitung der staatlichen Macht kritiklos übernommen wurde.
Es geht mir nicht darum, die Potenziale der Stadtguerilla bzw. RAF hervorzuheben. Meiner Meinung nach gibt es nämlich keine solchen. In seiner Gänze ist der Linksterrorismus so fernab einer guten Praxis, dass, wenn ich nur ein wenig mehr Vertrauen sowohl in die deutschen Behörden als auch die Neue Linke hätte, diesen als eine Art Psyop interpretieren würde. So sehr hat die RAF den staatlichen Repressionsbehörden geholfen und das Konzept einer bundesdeutschen Linken in den Augen der Bevölkerung nachhaltig vergiftet. Die Diskussion über die Gewaltfrage hin oder her, der Gewaltfetisch der RAF hat keinen Platz in linker Praxis.
Ich möchte nicht den Status von Theorie überbetonen. Doch ist die (Selbst-)Reflektion mitunter das Wichtigste, was eine linke Bewegung tun kann, um ein Abdriften in faschistoide Auswüchse, sei es ein Führerkult, Gewaltfetisch, Nationalismus, oder anderes, zu verhindern. Praxis muss immer der Reflektion unterworfen sein.
Zitiert nach WOLFF, Robert, 2018. „Das Konzept Stadtguerilla: Die Entzauberung kommunistischer Guerilla- und Revolutionstheorie?". In: Arbeit – Bewegung – Geschichte: Zeitschrift für historische Studien. 2018(2). S. 115 ↩︎